LOL, EM & Tante Karen

(Marta Cassina)

 

 

Seit über hundert Jahren rufen Künstler immer wieder den Tod der Kunst aus. Von den ersten Avantgarden bis zu den letzten Ausläufern des Konzeptualismus ringt jede Generation mit dem Verdacht, alle Formen seien erschöpft. Aber was passiert, wenn ein Künstler diesen Satz wörtlich nimmt – wenn der Tod nicht das Ende der Kunst bedeutet, sondern ihr eigentlicher Kern ist?

Das Werk von Morten Viskum beginnt dort, wo viele eine Grenze ziehen würden. Seit Mitte der 1990er Jahre hat er ein einzigartiges Œuvre entwickelt, das Installation, Fotografie, Video und Malerei verbindet, oft mit Elementen aus medizinischen Kontexten: menschliche Gliedmaßen, innere Organe, tote Tiere, Blut. Am bekanntesten ist wohl seine Geste, mit einer toten Hand zu malen – ein Akt, der für Schlagzeilen, Skandale, Panikattacken und sogar Todesdrohungen sorgte. Obwohl die Gegenwartskunst uns an vieles gewöhnt hat, fällt es noch immer schwer, den Tod als normales Material der Kunst zu betrachten. Der Tod lädt die Werke, in denen er erscheint, mit rechtlichen, ethischen und religiösen Fragen auf. Viele von Viskums Arbeiten wurden deshalb angezeigt, gestohlen oder zensiert, bevor sie überhaupt öffentlich gezeigt werden konnten.

 

Die Ausstellung beginnt mit einer verstörenden Szene: eine lebensechte Silikonfigur des Künstlers als Wladimir Putin, an einem viel zu langen Tisch. Emmanuel Macron ist gerade gegangen. Auf dem Tisch eine Flasche mit Rattenföten in Formaldehyd; darunter Wodka, verschüttet über einer Regenbogenfahne. Anderer Raum, neues Rätsel: Viskum als Edvard Munch in dessen Atelier in Ekely, umgeben von Zeichnungen, die er mit verbundenen Augen angefertigt hat. In der Nähe: ein Obduktionstisch mit einem Skelett. Was für Selbstporträts sind das?

Jedes Jahr zu seinem Geburtstag lässt Viskum in einem Pariser Atelier eine Ganzkörperabformung von sich anfertigen, die er in eine hyperrealistische Skulptur verwandelt. Er spielt mit Identität und verschmilzt mit anderen Figuren im Spiegel kultureller Erzählungen. Allen Selbstporträts gemein ist das Thema der Endlichkeit. Die Skulpturen kommen in Holzkisten an, fast wie Särge. Den eigenen Körper leblos und blass zu sehen, sei, so sein Hersteller, wie eine Probe für den Tod. Viskum selbst fiel während der Produktion von Immortal (2004) in Ohnmacht – das erste Werk der Serie, in dem er vor einer Wand steht, auf die IMMORTAL mit Blut geschrieben und mit Lack versiegelt wurde, damit es nicht verblasst. „Wäre es nicht absurd gewesen“, sagte er später, „ausgerechnet in dem Moment zu sterben, in dem ich mich unsterblich nannte?“

Der Tod durchzieht Viskums Werk wie ein roter Faden, nicht als Metapher oder Schockeffekt, sondern als reale Präsenz. Seine Praxis kreist um ein grundlegendes Paradox: Der Tod ist das sicherste Ereignis im Leben und zugleich das einzige, das wir nie wirklich erleben. Er definiert uns, entzieht sich aber zugleich unserer Erfahrung. Wir kennen den Tod nur durch seine Folgen: durch Abwesenheit, durch den Schmerz, jemanden zu verlieren. Aber wir wissen nicht, was der Tod ist. Wir können ihn nicht beschreiben, nicht durchleben, nicht zurückkehren. Solange wir leben, bleibt er eine unmögliche Erfahrung. Auch unsere symbolischen und sozialen Strukturen beruhen auf der Trennung zwischen Leben und Tod. Für Viskum ist Kunst ein Mittel, um diese Schwelle zu hinterfragen – ein Ausnahmezustand, in dem Regeln außer Kraft gesetzt sind. Seine Werke sind Rituale der Konfrontation mit dem Unsagbaren und dem Unantastbaren.

 

Der Tod wird im letzten Raum besonders greifbar mit Tante Karen – eine Serie abstrakter Bilder auf Spitzendeckchen und bestickten Stoffen, benannt nach Edvard Munchs Tante. Es handelt sich nicht um Gemälde im herkömmlichen Sinn, sondern um Spuren einer Performance, ausgeführt mit einer abgetrennten Hand, die Pinsel und Stifte hält. Für diese Arbeit wählte Viskum Hand Nr. 6 aus seiner Sammlung – klein, alt und weiblich. Jede Hand fühlt sich anders an durch den OP-Handschuh, den er beim Umgang damit trägt, um nicht mit dem Formalin in Berührung zu kommen, in dem die Gliedmaßen konserviert sind.

Vielleicht das Eigenartigste an diesen Performances ist ihre Ambivalenz: Sie ziehen an und stoßen ab zugleich. Wir leben in einer Welt, die nach Sensation giert, und viele Fragen richten sich unweigerlich an die Hände – woher sie stammen, wie sie erworben wurden, wem sie einst gehörten. Die meisten dieser Informationen dürfen nicht preisgegeben werden. Viskum begann bereits während seines Studiums, die sogenannten „Old Hands“ zu sammeln. Irgendwann wurde ihm klar, dass er in seiner Kunst nie menschliche Überreste verwendet hatte – einfach, weil es verboten ist. Und dass diese Grenze vielleicht nur theoretisch besteht.

 

Apropos Grenzen: Es scheint uns kaum zu stören, dass viele Künstler früher Anatomie studierten und dafür Leichen aus der Pathologie untersuchten oder sogar zerlegten. Doch schwer fällt es uns, zu akzeptieren, dass jemand wie Viskum noch einen Schritt weitergeht: Körperteile entnimmt und sie in der Welt der Lebenden weiterwirken lässt, oder jedes Jahr seine eigene leblose Gestalt aus einem Labor in Paris heimholt. Doch der Künstler wird es uns nicht verübeln, wenn wir vor den Leichen zittern, die wir alle eines Tages sein werden. Er wird nicht urteilen, denn diese Angst ist das Leben selbst.